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Dres. Müller-Hagen | Graefe | Winterberg | Kollegen

Teure Krebsmittel: wieviel Verbesserung rechtfertigt den Preis?

Hier geht es um Gerechtigkeit: Ist teurer = besser? Was muss der verschreibende Arzt im Blick haben, wenn er die Wahl hat, ähnliche, aber unterschiedlich teure Medikamente zu verschreiben? Ist er nur seinem Patienten verpflichtet? Wieviel besser muss ein Medikament sein, um einen höheren Preis zu rechtfertigen? Wer entscheidet das?

Moderne Krebsmittel sind häufig extrem teuer. Leicht wird der Gegenwert eines Kleinwagens in wenigen Monaten als Tropf in die Vene gegeben. Für den Patienten bedeutet das eine Erhöhung der Wahrscheinlichkeit, dass eine Therapie wirkt, oder dass sie mit weniger Nebenwirkungen erreicht, was eine ältere billigere auch geschafft hätte. Das übersetzt sich in eine statistisch längere Lebenszeit und / oder in eine bessere Lebensqualität. Ob es im Einzelfall funktioniert, kann niemand vorhersagen. Wenn nach der Therapie eine Lebensphase mit guter Lebensqualität resultiert, kann man hinterher nicht 100% zuordnen, ob es gerade durch den teuren Stoff oder durch seine billigeren Kombinationspartner so gekommen ist - oder noch irritierender: ob bei reiner Beobachtung ohne Chemotherapie diese Phase nicht auch eingetreten wäre.

Aber theoretisch - statistisch lässt sich jeder Therapie ein Lebenszeitgewinn und ein Preis zuordnen. Wir bewegen uns dabei inzwischen in Größenordnungen von nicht selten über 50.000€€ pro gewonnenem Jahr. Mit seiner Unterschrift aufs Rezept entscheidet der Arzt, dass die Versicherten diesen Beitrag für den Erkrankten solidarisch finanzieren müssen.

Der Entscheider ist nicht der Nutznießer. Der Nutznießer ist nicht der Bezahler. 

Rechenbeispiel: Lebenszeit und Lebensqualität pro Geldeinsatz

Gedachte Situation: Der Arzt muss für seinen Patienten darüber entscheiden, ob er ihm ein bestimmtes Krebsmedikament vorschlagen soll.

Die Infusion X mit dem Preis von 5.000€€ im Monat hat in einer Untersuchung das Überleben von Patienten im Schnitt um 4,3 Monate verbessert. Die Infusion Y hat viel mehr Nebenwirkungen, kostet nur rund 1.000€€ im Monat, und es gibt ältere Untersuchungen, aus denen man schließt, dass sie das Überleben um  durchschnittlich12 Wochen verlängert.

Im Beispiel stehen 3 Monate durchschnittlicher Lebenszeitgewinn mit relevanten Nebenwirkungen gegen 1,3 Monate höheren Gewinn, und dies mit besserem Nebenwirkungsprofil. Dafür ist der Preis vierfach so hoch. Leider sind die beiden Medikamente nie direkt in einer Studie verglichen worden. Die Daten stammen aus unterschiedlichen Untersuchungen und es ist noch nicht einmal sicher, ob der Vergleich seriös ist.

Diese Situationen und insbesondere die angenommenen Größenordnungen von Preisen und Zeiten sind realistisch. Sie sollen zeigen, wie kompliziert es wird, wollte man Gerechtigkeit berechnen.

Verantwortung gegenüber der Versichertengemeinschaft

Der Patient hat das Recht, das deutlich teurere Medikament X zu wollen. Der Arzt ist in der Klemme: Wenn er stattdessen Y verordnet, bliebe mehr Geld im System, um vielleicht einen anderen Patienten auch noch zu behandeln. Vielleicht würden die eingesparten 4.000€€/Monat dafür verwendet werden, einen Rettungshubschrauber zu unterhalten, den es sonst nicht gäbe. Oder würde man finden, dass die Verbesserung der Lebensqualität eines Krebspatienten unter Therapie und die Lebenszeitverlängerung um wenige Wochen selbstverständlich 4.000€€ wert sein müssen, die gemeinschaftlich zu tragen sind?

Vielleicht würde sogar eine Entscheidung des Arztes für das billigere Y zusätzlich sein Risiko senken, dass ihm später von Prüfinstanzen des Kassensystems Unwirtschaftlichkeit vorgeworfen werden kann. Woher soll er wissen, ob nicht in einigen Jahren eine Prüfung kommt, ihm Unwirtschaftlichkeit vorwirft und bis zur juristischen Klärung erst mal den im Quartal für diesen Patienten ausgegebenen Mehrbetrag von 3 Monaten x (5.000-1.000€) €/Monat = 12.000€€ abzieht?

Das hier skizzierte Regressrisiko gehört zum Drohszenario, mit dem die Kassen systematisch die Ärzte verunsichern. Insofern ist es Fakt. Andererseits hört man unter Kollegen, die seriös arbeiten, bisher (2022) nicht davon, dass tatsächlich so vorgegangen wird. Dennoch schlummert hier Sprengstoff: Patienten müssen überall in der Medizin grundsätzlich damit rechnen, dass ihnen Vorgehensweisen nicht verschrieben werden, die durch einen hohen oder sehr hohen Mehrpreis für einen vergleichsweise geringen Zusatznutzen gekennzeichnet sind. In der ambulanten Medizin ist das System im Grundsatz dadurch gekennzeichnet, dass der verschreibende Arzt nicht direkt selbst an Kosten oder Gewinnen beteiligt ist (er schreibt nur die Rezepte, ist aber weder Apotheker, noch pharmazeutischer Unternehmer). Dagegen muss in der stationären Krankenhausversorgung im Grundsatz das Krankenhaus daran interessiert sein, die Leistungen, für die es bezahlt wird, möglichst billig zu erbringen. Das System will, dass es Einsparungen realisiert - und die können prinzipiell auch im Bereich von Materialien oder Medikamenten erzielt werden. 

Zusatznutzen

Klar wird: Es darf es nicht die Entscheidung des einzelnen Arztes mit dem einzelnen Patienten sein. Entweder X ist für alle OK, oder es ist nie OK. Solche Entscheidungen müssen insgesamt gefällt werden. Wenn X nicht OK wäre, wäre Y anzubieten - für alle Beitragszahler gleich. Wer dann partout X haben will, hätte die Zusatzkosten selbst zu tragen. Um nicht missverstanden zu werden: Eine demokratische Gesellschaft darf sich in einem solchen Falle auch gegen höherpreisige Vorgehensweisen entscheiden - Hauptsache transparent. Und wir als behandelnde Ärzte wollen nicht in die Rolle von Händlern gedrängt werden, die beginnen, hie und da beraten zu müssen, wie man - in der Regel - für sehr viel mehr privates Geld ein wenig mehr Effekt erhalten könnte.

Wie schön, dass wir das fast nie auch nur ansprechen müssen. Es wird - noch jedenfalls - sehr sehr viel bezahlt von den Krankenkassen und man wundert sich als Arzt, wie es politisch noch immer möglich ist, dass Krebsmittel so irrwitzig teuer sein können. Oder finden Sie Tagestherapiekosten über 100 Euro selbstverständlich?

AMNOG

Das ist in den letzten Jahren zunehmend eingeführt worden. Das Arzneimittelmarkt-Neuordnungs-Gesetz AMNOG hat dazu einen Prüfprozess etabliert. Dort wird festgestellt, ob ein höherer Nutzen (als eine alte Vergleichssubstanz ihn hat) überhaupt vorliegt, um den hohen oder sehr hohen Preis zu rechtfertigen. Den hat nämlich eigentlich jedes neue Krebsmedikament: Tagestherapiekosten von 100 und mehr Euro sind die Regel. In diese Nutzenbewertung gehen vorrangig Daten zur Effektivität ein, aber auch Daten zur Lebensqualität unter der neuen Therapie werden berücksichtigt, so genannte "patient reported outcomes". Ist sie besser verträglich als der bisherige Standard, stellt das auch einen Nutzen dar, selbst wenn sie nicht besser wirkt.

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